Als hätten die Wikinger geahnt, dass der Mensch des 21. Jahrhunderts ihr Wissen brauchen würde: Seit 6000 Jahren knotet sich die Menschheit in kalten oder rauen Gefilden Stroh aufs Dach. Reetdächer kann der Urlauber des Öfteren als tiefsitzende Haube auf alten Häuschen an der Ostsee oder im Schwarzwald entdecken. Zwischen 40.000 und 100.000 schilfrohrgedeckte Dächer sollen es auf den gut 800 Kilometern dazwischen sein.
Heute setzen umweltbewusste Menschen bei der Sanierung ihres Hauses immer öfter auf „Stroh überm Kopf“: Reet dämmt und lässt Luft gleichsam zirkulieren, es wärmt im Winter, im Sommer kühlt es – diese Vorzüge macht sich beispielsweise Sachsens Dachdecker-Innungsbetrieb bei moderner Wärmesanierung zunutze. Nicht zuletzt wegen ihrer wertvollen Eigenschaften zählt die Reetdachdecker-Kunst seit 2014 zum immateriellen UNESCO-Kulturerbe Deutschlands – nahezu ausgestorben, wiederentdeckt, zum Trend avanciert. Halleluja, Nachhaltigkeit?
Ganz ohne Schönheitsfehler ist die ganze Sache leider nicht, denn in den vergangenen Jahren wurde das Baumaterial aus Kostengründen von fern importiert – etwa aus der Ukraine oder China – und in aller Eile vernäht. Spätfolge: Vor zehn Jahren grassierte das so genannte „Reetdachsterben“ – ganze Dächer begannen zu verrotten, kurz nachdem die Handwerker ihre Werkzeuge eingepackt hatten. An der Universität Greifswald wurde hinterhergeforscht – und festgestellt: Das weitgereiste Schilfrohr und der heimische Weißfäulepilz „Pycnoporus Cinnabarinus“ vertragen sich nicht. Seither setzen spezialisierte Dachdeckerbetriebe auf hohe Qualität ihres Materials und sind dementsprechend gründlich bei der Verbauung – das macht sich auch im Geldbeutel bemerkbar: Ein komplette Neueindeckung auf Schilfrohrbasis kostet etwa 20.000 Euro. Reetdachdecker-Handwerk ist also in jeder Hinsicht eine exklusive Sache. Offizieller Ausbildungsberuf ist es erst seit 1998. Großes Können wie in jedem anderen Handwerk ist auch hier gefragt – schließlich stellt ein vollendetes Reetdach eine Investition in Nachhaltigkeit und Tradition gleichermaßen dar. Wer es absolut ursprünglich mag, kann sich auch einen Rauchabzug nach uraltem Vorbild einbauen lassen – vielleicht schaut die Schleiereule vorbei. Daher auch der Name „Eulenloch“, versteht sich.
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